Zweitausenddreizehn Schlangen
Also schlängelt man sich wieder einen Weg durch das Menschengetümmel. Fast zwei Milliarden schwazhaarige Chinesen, alle Südlichen mehr oder weniger schmal gebaut, zierlich und mit dunklen Augen. Nördliche Bewohner, breit, kräftiger und mit gröberen Gesichtsszügen. Sie alle wollen nach Hause, zu ihren Liebsten und Nicht-so-Liebsten. Zum chinesischen Neujahr, Frühlingsfest, Schlangenjahr zählen Streits und Unstimmigkeiten nicht mehr. Sie verblassen in der Betriebsamkeit der wichtigsten Feiertage dieses atheistischen Landes.
Das chinesische Neujahr bedeutet Familienzeit. Jede Firma schließt, jedes Unternehmen zahlt Neujahrsgeld, jede Manufakturfabrik atmet durch. Alter spielt keine Rolle, jeder kehrt zu seiner Familie und seinen Eltern zurück. Das Heim der Familienältesten ist der Treffpunkt des Geschehens.
Für grob zwei Wochen scheint das Reich in der Mitte also seinen Atem anzuhalten, alle Restaurants zu schließen und sich zu erholen. Auch meine Familie ist Teil des allgemeinen Wahnsinns.
Die Firma wird geschlossen. Die Computer zum einzigen Mal im Jahr komplett runtergefahren. Jeder Mitarbeiter zählt seinen Neujahrsbonus, meine Tante und ich fahren direkt zu ihren Eltern. Über zwei Tage bereiten wir das Essen für den zehnten Februar vor. Es wird Jiaozi geben, das traditionelle Neujahrsessen in ganz China. Kleine chinesische Maultaschen, welche mit einer Gemüse-Fleisch Füllung gefüllt werden. Grüntee, Reis, Baijiu. Den westlichen Einfluss spüre ich nur, als wir zu zehnt mit französischem Wein in kleinen chinesischen Teeschälchen anstoßen. "Xin Nina kuai le!" Ein fröhliches neues Jahr. Alle sind da. Von fern und nah. Wo gestern noch die Straßen von weit oben betrachtet geschäftigen Ameisenstraßen glichen, so ist heute fast alles ausgestorben. Vielleicht der einzige Tag, an dem ich mich traue, auf der Straße Fahrrad zu fahren ohne in Panik auszubrechen.
Seit dem achten Februar kann ich nachts nicht mehr schlafen. Wir wohnen im Zentrum Chengdus. Zehn Millionen Einwohner, viele davon in Vorfreude und Rumböller-Laune. Aber dann ist es soweit. Meine zwei kleinen Cousins rennen aufgeregt zur Türe. Sie dürfen ihre eigenen kleinen Feuerwerke eröffnen. Zwar noch nicht Mitternacht, aber das stört sie nicht und sonst auch niemanden. Immerhin böllern Alle schon seit Stunden. Hauptsächlich ist es einfach nur laut.
Nachts um zwölf scheint es mit für eine winzige Ewigkeit, als ob ich nicht mehr einzelne Knalls höre Sondernummer noch ein beständiges Riesengrollen.
Die Jüngsten freuen sich immer am meisten. Stell dir Weihnachten mit seinen Geschenken und den Familienzusammenkünften vor und Silvester mit seiner Vorfreude, Feuerwerk und Countdown.
Die Geschenke, dass sind die "Hongbaos", die roten Umschläge. In ihnen ist Geld versteckt und die jüngsten, unverheirateten und aufgeregtesten der Familienmitglieder bekommen sie.
2012 war das Jahr des Wasser-Drachen, welcher Glück, Reichtum und Güte brachte. 2013 gehört seiner Verwandten, der Wasser-Schlange. Sie ist das intelligentesten Zodiaktier. Ihre Eigenschaften sind Intelligenz, Logik und Kreativität. Außerdem, so erklärt mir mein alter Großonkel, ist dieses Jahr die perfekte Gelegenheit für mich, Geld besonnen und dafür sehr gewinnbringend anzulegen. Die Schlange sorgt für den Gewinn.
Was kann ich also da noch sagen? Doch das undurchsichtige Verhalten der Schlange fordert auch, kühl und analytisch zu bleiben für ein Jahr mit leicht zu entfachenden Konfrontationen.
Neue Mitarbeiter werden hier nicht zum 01.01. eines Jahres eingestellt sondern zum chinesischen Neujahr. Inventur wurde heute schon gemacht. Als fleißige, verzweifelte Praktikantin ohne wirklich tief gehende Chinesisch-Kenntnisse habe ich mich bei der Überprüfung der Dokumente denke ich ganz wacker geschlagen. Liste, Stift, Schlüssel für die Aktienkabinette und dann viel Erfolg.
Meinen roten Umschlag in der Hand schlängle ich mich, noch in einer dicken Winterjacke eingepackt, unter roten Lampions und den ersten Kirschblüten durch die endlos wogende Masse, wohin auch immer 2013 sich windet und hinführt.
Gong Xi Fa Cai! Glückwünsche und Wohlstand!
kulturbanausin am 19. Februar 13
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Irgendwie wirkt dein Bericht melancholisch auf mich. Kann aber auch an der Musik liegen, die ich grade höre - unfreiwillig, da Radio...