Gepiercte Standbilder
Das chinesische Einkaufszentrum "Luo Ma Shi", 28. März 2013, 17.13 Uhr . Donnerstag. Ich bin seit grob acht Monaten in China. Das zweite Semester hat begonnen, und mit ihm sind alte Freunde gegangen und neue angekommen. Darunter Blandine, eine süße, naive Französin. Neunzehn, aber so zierlich und schmal gebaut, dass sie auch locker sechzehn sein könnte. Wäre da nicht ihre sinnliche Art zu tanzen oder ihre langen hellbraunen Haare, die immer genauso liegen, als hätte sie ihren Freund nicht das letzte Mal vor einem Monat, sondern vor fünf Minuten gesehen. Sie steht in diesem Moment, den ich hier versuche einzufangen, über die Schulter ihrer marokkanischen Freundin Leila gebeugt da. Ihr Schal scheint fast liebevoll in Leilas dunklen wilden Locken verfangen; braune und schwarze Augen auf die Ohrringe des Schmuckstandes zu meiner rechten Seite fixiert. Meine Freundinnen aus dem letzten Semester, zwei adoptierte Holländerinnen und gebürtige Chinesinnen, stehen vor und neben mir. Shuxiu hat ihren Kopf neugierig zur Seite geneigt, als ob sie meinen Gesichtsausdruck intensiver studieren will. Dingding schaut mich aus ihren runden Knopfaugen an. Wangen leicht gerötet, während sie unbewusst auf ihrer Unterlippe kaut. Es wirkt fast so, als ob alle vier Mädchen mir meine Emotionen abnehmen wöllten oder die Gefühlsregungen zeigen, die nicht auf meinem eigenen Gesicht zu erkennen sind.
Ich stehe in dieser Minute, dreizehn Minuten nach fünf Uhr nachmittags, vor dem Schmuckstand. Ein großer, kahler Chinese drückt eine Zange an meinen Tragus, den Knorpelauswachs meines Ohres genau über dem Gehörgang und meinem rechten Ohrläppchen. Ich spüre das unangenehme Ziehen und Stechen in meinem Ohr, als ich meinen zweiten Piercing machen lasse. Ich starre die Leute um mich herum an. Die junge, abgearbeitet Chinesin mit dem Desinfektionsspray in den verkrampften Händen. Den Standbesitzer neben mir. Das kleine Mädchen, welches durch die langen Gänge des Einkaufszentrums rennt. Die verhärmte Bettlerin, die mit gelben Stummeln im Mund um Kleingeld bettelt, Hände und Haupt in zerlöcherten Lumpen versteckt.
Nun, wenn ich diese Eindrücke schreibe, verschmilzt alles zu einem einzigen Standbild. Ein Teppich aus Einkaufstaschen um die vier Mädels, die es nicht fassen können, das ich mir freiwillig ein Loch ins Ohr piercen lasse. Das Gemurmel hunderter geschäftiger Chinesen um mich herum, die starrenden und versteckten Blicke für uns, die "Lao Wai", die Ausländer. Ich spüre nur das stechende Gefühl. Und wenn ich jetzt meine Hand hebe, fühle ich das frisch gepiercte Ohr, und alles ergibt gepiercte Standbilder eines Moments in Xi'an - der Mitte des Reichs der Mitte.
kulturbanausin am 07. April 13
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
